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Volkstrauertag 2007: Ich hat einen Kameraden?

Pfarrer Frieder Dehlinger über Schuld und Vergebung

17.11.2007 - Ritz Peter

 

Am Vorabend des Volkstrauertags fand das traditionelle Gedenken an die Opfer von Krieg, Terror und Vertreibung auf dem Eislinger Nordfriedhof statt. Otto Funke vom VDK erinnerte an die vielen Toten des letzten Jahrhunderts und mahnte, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Bürgermeister Günter Frank wies darauf hin, dass auch so viele Jahre nach dem Krieg das Thema nicht vom Tisch sei; Erinnerung sei der Schlüssel zur Zukunft. Eislingen online war von der Ansprache des Pfarrers der Christuskirche beeindruckt und dokumentiert deshalb diese Ansprache im Wortlaut.




Ansprache zum Volkstrauertag 17.11.2007
zur Jahreslosung 2007: Jes 43, (18 und) 19a:

Gedenkt nicht an das Frühere
und achtet nicht auf das Vorherige.
Denn siehe, ich will ein Neues schaffen,
jetzt wächst es auf,
erkennt ihr es denn nicht?

Liebe Frauen und Männer, liebe Gemeinde am Vorabend des Volkstrauertages 2007,
es ist ja eine interessante Situation, jetzt,
62 ½ Jahre nach dem Ende des Krieges.
Immer weniger Menschen erinnern sich.
Vor allem die Jungen wissen kaum mehr, was war,
und das seit 18 Jahren wiedervereinigte Deutschland wächst mehr und mehr heraus aus den Schatten seiner Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Wer 1945 achtzehn Jahre alt war, ist heute achtzig Jahre.
Und vor allem von den Männern dieser Jahrgänge leben nicht mehr viele.

Die Zeitungen aber und das Fernsehen sind voller Erinnerung.
Allein in den letzten Tagen:
- ein Mehrteiler zur Geschichte der Wehrmacht
- ein Zweiteiler zur Geschichte der Reichsbahn.
Ein Walter Jens, ein Günther Grass geraten ins öffentliche Kreuzfeuer wegen ihrer Mitgliedschaft in SS-Verbänden.
In vielen Städten – zuletzt auch in Süßen – werden Stolpersteine ins Pflaster eingefügt, die an die vertriebenen und ermordeten Juden aus unseren Städten erinnern.
Und immer mehr große Firmen arbeiten ihre Geschichte im 3. Reich auf.
Jetzt allmählich, endlich ist das möglich.


(1) In meinen Gesprächen als Seelsorger mit vielen Gemeindegliedern ist der Krieg häufig ein Thema.
Und das ist dann nicht: „Der Opa erzählt halt mal wieder vom Krieg“.
Nein, das sind immer sehr ernste und persönliche Geschichten.

Ein 80-jähriger erzählt. Er wollte unbedingt zur SS.
Sein Vater, tief verwurzelt in der evangelischen Kirche,
hat mit aller Macht versucht, ihn daran zu hindern.

Eine 50-jährige erzählt.
Der Bruder ihrer Mutter ist in Russland gefallen.
Die Trauer der Mutter hat ihre ganze Kindheit überschattet.

Unsere Russlanddeutschen erzählen.
Wie sie vor der heranrückenden Roten Armee aus Odessa evakuiert wurden ins sogenannte Warthegau,
von den Russen dann eingeholt und nach Sibirien deportiert wurden,
in Zwangslager, die kaum einer überlebt hat.

Unsere Siebenbürger erzählen.
Wie die Männer, die den Krieg überlebt hatten, in die Zwangsarbeit verschickt wurden.

Unsere Schlesier und Sudetendeutsche erzählen,
wie sie, wenn es gut ging, mit 50 kg Eigentum vertrieben wurden,
und dann sich wieder aufgerappelt haben, zwangseinquartiert als Evangelische in einem kleinen katholischen Dorf in Bayern.

Ist das lange her?
60, - 62 Jahre. Fast ein ganzes Menschenleben.
Aber nein, lange ist das nicht.
Ganz schnell werden die Spuren deutlich, die der elende Krieg in die Leben der Menschen gekratzt und gerissen hat.
Die meisten Narben sind verheilt. Aber doch:
Die Verluste, die Wunden und Traumata wirken weiter.
Auch die Schuld wirkt weiter.
Die nicht erkannte und bekannte Schuld,
das nicht bereinigte Gewissen
Die Bibel sagt von Gott (2.Mose 20,5):
er sucht die Sünden der Väter nach bis ins dritte und vierte Glied.
Ich denke dann immer:
Wie ungerecht! - Was können die Kinder und Enkel dafür?
Aber ich sehe auch: es ist wahr.
Die Erschütterung durch Krieg und Naziterror
durch den Untergang des 3. Reiches und die Vertreibung wirkt stark bis heute nach – bis ins 3, und 4. Glied,
also selbst noch bei den Enkeln und Urenkeln,
die oft gar nichts mehr wissen und wissen wollen von dem,
was ihre Urgroßmütter und Urgroßvätern mitgemacht haben,
und was ihren Großmütter und Großvätern geschehen ist.

Es ist gut, dass wir am Volkstrauertag der Erinnerung und der Trauer einen Raum geben und eine gemeinsame Form,
auch wenn vielleicht immer mehr Leute sagen:
„Zieht doch endlich einen Schlussstrich.“
Doch nein,
Schuld und Grauen aus Faschismus und Krieg wirken immer noch sich aus in unserm Leben,
und solange braucht es auch die Trauer
und das Erinnern
das Fragen nach der eigenen Schuld
und das Bitten um Vergebung.

Ich denke an die 83-jährige Frau, ursprünglich aus Ostpreußen.
Sie sitzt im Rollstuhl, verwirrte und klare Stunden wechseln sich ab.
Jetzt erst in den letzten Monaten fängt sie an, vom 3. Reich zu reden.
Jetzt erst kann sie zulassen und zugeben,
dass es schlimm war und Unrecht, was Hitler angerichtet hat,
jetzt erst kann sie sagen:
„Ja, wir wurden in unserer Jugend missbraucht und in die Irre geführt
und haben es geschehen lassen.“
Ich bin froh, dass sie darüber spricht.
Denn nur was benannt wird, kann auch vergeben werden.
Nur was wir zugeben, - uns zugeben, vor Gott zugeben,
kann sich auch in unserem Herzen und in unserer Seele lösen.
Es ist heute noch so schwer für die vielen unter uns,
die als junge Leute im NS-Staat in große Verantwortung gestellt wurden,
sei es als Soldat oder als Polizist, als Blockwart,
als Jugendleiterin im Bund deutscher Mädchen
oder als Führer in der Hitler Jugend.
Es ist so schwer, wenn man über lange Jahre so viel eingesetzt hat,
dann nach 1945 zu begreifen,
dass man missbraucht wurde und sich missbrauchen ließ,
und dass der totale Einsatz und die Fülle der Opfer nicht nur vergeblich waren,
sondern Teil eines ungeheuren Verbrechens an der Menschheit.

Doch wie gut ist es, wenn heute die alten Blendungen und Fesseln endlich gesehen und benannt - und dann auch gelöst und vergeben werden!


(2) Doch wenn die Schuld so groß ist,
wenn der Einbruch des Bösen, des Unmenschlichen
und auch des Antichristlichen so massiv ist,
wie im Europa der 1. Hälfte des 20.Jahrhunderts,
kann dann Vergebung tatsächlich geschehen?

Unsere Jahreslosung für das sich schon wieder neigende Jahr 2007 setzt einen klaren Akzent:
Gedenkt nicht an das Frühere
und achtet nicht auf das Vorherige.
Denn siehe, ich will ein Neues schaffen,
jetzt wächst es auf,
erkennt ihr es denn nicht?

Jesaja hat dieses Wort geschrieben
etwa 50 Jahre nach der verheerenden Niederlage der Juden,
50 Jahre nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier. So lange hat es gebraucht.
Israel hatte sich diese Niederlage selbst zuzuschreiben;
das kleine Israel meinte damals,
die Großmächte gegeneinander ausspielen zu können
und mit der ganzen Welt es aufnehmen zu können.
Alle Warnungen Gottes durch die Propheten
hatte Israel damals in den Wind geschrieben..
Jesaja schrieb diese Worte im Exil in Babylon,
also – hören Sie! - im heutigen Irak.
Und er macht seinen Leuten Mut,
dass die Sünden, die Irrtümer,
das Gott-Abschwören und die Selbstüberschätzung von damals
das heute nicht prägen müssen!
Gott selbst ist es,
der an das Frühere nicht mehr gedenken will,
vielmehr einen neuen Anfang schafft.
Gott schenkt Vergebung.
Gott verhaftet uns nicht auf ewig in unseren Irrtümern, Schwachheiten und Fehlern.
Er lässt neues wachsen: neuen Frieden, neue Gerechtigkeit
und neues Leben.
Jetzt wächst es auf. Erkennt ihr es denn nicht?

Dahin möge uns unser Trauern führen
- uns heute hier stellvertretend für uns alle in Eislingen,
- jetzt am Volkstrauertag stellvertretend für alle Tage des Jahres:
dahin möge uns unser Trauern führen,
dass wir die vergebende Kraft Gottes erahnen,
und im Vertrauen auf das Neue, das Gott schafft,
unser Herz erneuern
und unsere Schuld uns vergeben lassen können
und Teil nehmen am Neuen, am wirklich Neuen, das Gott schafft.
Gedenkt nicht an das Frühere
und achtet nicht auf das Vorherige.
Denn siehe, ich will ein Neues schaffen,
jetzt wächst es auf,
erkennt ihr es denn nicht?
AMEN.

VATERUNSER



Pfr. Frieder Dehlinger, Christuskirchengemeinde Eislingen








 

 

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